Gedanken zur Gedenkveranstaltung an die Pogromnacht vom 9. November 1938, die aufgrund der Bestimmungen zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie abgesagt werden musste.

Gedenken ausgefallen – weswegen?
Wegen des neuen Virus, das Angst verbreitet und bekämpft werden muss.
Notwendige Distanz.
Gedenken ausgefallen wegen des Virus, das tötet und zerstört.
Gedenken ausgefallen – woran?
An eine Nacht, ein Verbrechen, eine Nacht voller schrecklicher Verbrechen.
Opfer, Tote, zerstörte Existenzen.
Vielmehr: An das alte Virus, das Tod und Zerstörung brachte.
Gedenken ausgefallen – wozu?
Zum Schutz vor Ansteckung, vor Ausbreitung, vor zweiter Welle.
Schutz von Leben, Gesundheit, Gesellschaft und Wirtschaft.
Wir müssen vernünftig handeln im Hier und Jetzt.
Ja, das alles stimmt – und doch:
Gedenken darf nicht ausfallen! – deswegen:
Wegen des alten Virus, das weiter Angst verbreitet und so schwer zu bekämpfen ist.
Keine Distanzierung!
Gedenken notwendig wegen des Virus, das weiter tötet und zerstört.
Gedenken darf nicht ausfallen! – daran:
An viele solcher Nächte, die bis heute sind, kleinere und große.
Neue Opfer, neue Not, neue Ausgrenzung.
Vielmehr: An das alte Virus, das Hass und Zerstörung bringt bis heute.
Gedenken darf nicht ausfallen! – dazu:
Zum Schutz vor Neuausbreitung, vor Verdrängen und Vergessen.
Schutz von Lebenschancen, Mitmenschlichkeit, Vielfalt und Respekt.
Wir müssen aufmerksam bleiben hier und heute.
Auch das stimmt – und deswegen:
Ausfallen musste die Veranstaltung – niemals aber das Gedenken!
P. Thaddäus Vos O.S.B., Pfarradministrator der katholischen
Pfarrgemeinde St. Andreas
Dieter Wichihowski, Pfarrer der Evangelischen Kirchengemeinden Höchst a.d.N., Oberau und für die Waldsiedlung hat ebenfalls einen Text verfasst:
Gedanken zur Erinnerung an das Reichspogromgeschehen 1938 aus der Sicht von 2020
Der Dichter und Schriftsteller Schalom Ben - Chorin (Fritz Rosenthal) geboren 1913 in München und verstorben 1999 in Jerusalem, war 1935 im Alter von 22 Jahren aus dem damaligen „Nazi – Deutschland“ nach Palästina ausgewandert und dadurch dem Holocaust entgangen. Aus der Entfernung musste er hilflos miterleben, wie seine jüdischen Angehörige, Freunde oder frühere Nachbarn nach und nach verschleppt und in einem der vielen Vernichtungslager umgebracht wurden. Solch eine erlebte Hilflosigkeit gegenüber erlittenem Unrecht, macht viele Menschen bitter und lässt die Herzen hart werden. Ben – Chorin hat 1942 ein Gedicht geschrieben, gewissermaßen wie eine Medizin, um der Herzensverhärtung seines Volkes und seiner jüdischen Glaubensgenossen*innen entgegen zu wirken. Er greift dabei auf das Symbol des Mandelzweigs zurück, der im jüdischen Glauben für das Leben steht, das durch keine Macht und durch keine Diktatur der Welt auf Dauer unterdrückt und zerstört werden kann. In diesem Gedicht heißt es:
Freunde, dass der Mandelzweig wieder blüht und treibt, ist das nicht ein Fingerzeig, dass die Liebe bleibt.
Dass das Leben nicht verging, soviel Blut auch schreit, achtet dieses nicht gering in der trübsten Zeit.
Tausende zerstampft der Krieg, eine Welt vergeht. Doch des Lebens Blütensieg leicht im Winde weht.
Freunde, dass der Mandelzweig sich in Blüten wiegt, bleibe uns ein Fingerzeig, wie das Leben siegt.